quer

eine Zeitschrift für Erwerbslose und alle Anderen.


Die quer berichtet über Kampagnen gegen Armut, über Sozialleistungsverhinderungssysteme wie "Hartz IV" und über Arbeitsbedingungen von Migrant*innen und vieles mehr. Die Zusammenhänge mit Themen aus der Landwirtschaft, Umwelt, Klimawandel, Militarisierung sowie mit dem Kampf für Geschlechtergerechtigkeit und internationale Solidarität versuchen wir aufzuzeigen.
Die quer setzt auf (Selbst)-Organisationsansätze von Erwerbslosen und Vernetzung.
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Die Ausgabe 25 ist online!

Liebe Leser*innen,
im April 2020 erscheint die quer nun das erste Mal als Website.
Um die quer 25 als pdf zu lesen oder alte Ausgaben zu lesen, klick' dich in den Archiv- und Downloadbereich.

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Editorial

Das Editorial der 25. Ausgabe.


Liebe Leser*innen,
liebe Mitstreiter*innen,

die Zeiten sind verwirrend. Die Corona-Pandemie bestimmt alles.
Die quer-Redaktion war kurz vor der Fertigstellung der 25. quer-Ausgabe, dann überschlugen sich die Ereignisse.
Vielleicht hat der eine oder die andere bis vor Kurzem die Gefährdung durch den Virus noch nicht ernst genommen. Auf jeden Fall ist es so, dass die „virale gesellschaftliche Situation“ alle Menschen in Deutschland, Europa und dem allergrößten Teil der Erde mehr oder weniger stark beeinflusst.

eine graue katze mit einem Mundschutz

Bild von Josh Dionne, veröffentlicht unter CC BY 2.0

Für uns in der Situation als Berater*innen, Aktive in der Unterstützung von Menschen in prekären Lebenssituationen nahm die Situation in der zweiten Märzwoche an Dynamik zu. Sofort war uns klar, dass die Gefahr besteht, dass gerade die „Schwächsten“ in der Gesellschaft „unter die Räder kommen“. Also haben wir uns sofort aufgemacht in Richtung der Leistungsträger, der Presse und der Politik, um die zu erwartenden Notsituationen zu schildern, Lösungen vorzuschlagen und Forderungen zu stellen.
Recht schnell hat auch die Bundesagentur für Arbeit reagiert und so manche unserer Vorstellungen umgesetzt. Dazu mehr in den folgenden Texten.
Inhalt dieser Sonderausgabe ist in der Hauptsache das sozialrechtliche Geschehen rund um die Corona-Pandemie.
Es bleibt eigentlich alles, wie es immer ist: Wir bleiben solidarisch, hier und überall in der Welt!
Bleibt gesund und haltet den Kopf hoch!

Eure
quer-Redaktion

In eigener Sache

Die quer diesmal als online-Veröffentlichung.


Die quer wurde jahrzehntelang als Magazin in Druckform herausgegeben, das letzte Mal 2012. Wenn die redaktionelle Phase abgeschlossen ist, werden alle Artikel, Urteile, Interviews und so weiter den Layouter_innen der quer übergeben. Das Layout hat sich - obwohl sich die Form der Veröffentlichung stark geändert hat - bis zur letzten Ausgabe eigentlich nur kaum geändert. Das fertige Layout für den Druck wurde auch bei der 24. Ausgabe nicht mehr an die Druckerei gesendet, sondern direkt per Mail und online zum Download veröffentlicht.
Wir wissen nicht, wieviele Leser_innen die gesamte quer ausdrucken, um sie zu lesen. Sicher ist aber, dass viele die quer am Bildschirm lesen. Und da kommen wir zu einem Problem: .pdf-Dokumente lassen sich auf großen Bildschirmen noch recht gut lesen, auf mobilen Geräten wird es aber schon schwieriger, da das starre Layout eines Dokumentes nicht auf unterschiedliche Bildschirmgrößen reagieren kann.

fauchende Katze am Schreibtisch Bild von Michael Frank Franz, veröffentlicht unter CC BY-NC 2.0

Damit die quer aber auch auf verschiedenen Geräten gut lesbar ist, werden wir in Zukunft weiterhin eine neue, webbasierte Form der Veröffentlichung wählen.
Moderne Webstandards bieten die Möglichkeit, Inhalte einer Website - je nachdem mit was für einem Gerät die Seite aufgerufen wird, - die jeweiligen Inhalte in einer passenden Größe und Anordnung bereitzustellen (in der Fachsprache: "Responsive Webdesign"). Ob eine Website (und somit auch diese) responsiv ist, kann leicht getestet werden: Am PC kann das Browser-Fenster vergrößert und verkleinert werden. Ist die Website responsiv, werden die Inhalte auch im verschmälerten Fenster gut dargestellt.
Diese Funktion ist natürlich auch praktisch für alle, die auf einem breiten Bildschirm lesen, aber nicht Zeile für Zeile die ganze Bildschirmbreite in den Augen spüren möchten: In einem halb so schmalen Fenster ist das schon angenehmer.
Und um das Ergebnis jetzt noch abzurunden, kann die Schriftgröße natürlich auch angepasst werden: Mit der gleichzeitigen Eingabe der Tasten Strg + wird die Schrift im Browser größer, mit Strg - wird sie kleiner.
Soviel Anpassungsvermögen kann schon sehr lesefreundlich sein. Aber wir haben noch mehr Vorteile festgestellt: Unsere Artikel und Urteile können auf diese Weise auch leichter von Suchmaschinen durchsucht und gefunden werden. Zusätzlich bietet es der Redaktion die Möglichkeit, jederzeit einen Artikel zu veröffentlichen. Sollten wir mit dieser unregelmäßigen Veröffentlichung beginnen, werden wir euch informieren.
Wir erhoffen uns ebenso, mehr Leser_innen für die Inhalte einer Zeitschrift für Erwerblose und alle anderen gewinnen zu können.
Keine Angst - wir werden weiterhin auch in regelmäßigen Abständen druckbare Versionen bereitstellen.

Zusätzlich möchten wir darauf hinweisen, dass wir auch inhaltlich neue Wege gehen möchten. Neben den gewohnten Inhalten wollen wir unsere Nähe zur ALSO und zum Alltag einer Erwerbsloseninitiative stärker unterstreichen. Wir freuen uns über Texte von anderen Initiativen, aber genauso von einzelnen Aktiven rund um die Themen Einkommensarmut und Prekarität.

Nochmal in eigener Sache

Rainer Timmermann verlagert seinen Arbeitsplatz

Seit vielen, vielen Jahren war Rainer fester Bestandteil der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) und auch dieser Zeitschrift quer. In der quer ist er der Leserschaft wohl überwiegend durch seine Urteilsrezensionen bekannt.


Rainer hat seinen Wohnort gewechselt und (zumindest teilweise) sein Tätigkeitsfeld. Seit dem Herbst 2019 arbeitet Rainer beim Förderverein gewerkschaftlicher Arbeitslosenarbeit e.V. in Berlin als politischer Referent. Also, das Herz aller Aktiven in der Erwerbslosenszene muss nicht in die Hose rutschen, denn Rainer bleibt uns erhalten und wird in seiner eigenen Art dort sicher für Impulse sorgen. Und mal ehrlich - die Erwerbslosenarbeit braucht diese dringend!
Trotzdem – in Oldenburg – in der ALSO und in der quer entstand eine große Lücke. Vieles kann auf andere Aktive umgeleitet werden, so manches wird zumindest in der bisherigen Art und Weise so nicht mehr funktionieren.
In der ALSO nannten wir Rainer immer mal „unser wandelndes Urteilslexikon“. „Wie ich schon in der quer xy geschrieben habe, hat das Bundessozialgericht …“. Nicht nur das wird uns fehlen!
Wer kennt sich in den vielen Metern von Aktenordnern aus?
Wer meckert nun ironisch grinsend über das Mittagessen?
Wer rennt jetzt um die Ecken, ohne nach rechts und links zu sehen? (Vorsicht alle anderen!)
Wer recherchiert jetzt den ganzen juristischen Kram für uns?
Wen fragen wir jetzt, wenn mal wieder komplexe, für uns neue Beratungsfragen an uns herangeführt werden?
Und nicht vergessen, dass (zwingend in jeder Gruppe wichtig) Rainer, wenn ihm die Hutschnur platzte, klare Ansagen gemacht hat! Und in fast jeder möglichen Situation einen herrlichen Sarkasmus an den Tag legen kann.
All das vermissen wir jetzt schon! Doch trotz unserem eigenen „Verlust“ freuen wir uns darüber, dass Rainer weiter im Thema aktiv bleibt. Und selbstverständlich wünschen wir Rainer bei seiner neuen Tätigkeit und am neuen Wohnort von Herzen alles Gute! Und wenn er sich nicht anständig benimmt, dann haben wir immer noch eine Königin oder Makri in der Hinterhand, die dem Zebra den Weg weisen wird, was jetzt sicherlich nur er versteht, aber das ist wahrscheinlich auch besser so.
Eigentlich hatten wir uns als quer-Redaktion vorgenommen, uns breiter aufzustellen und mehr Leute einzubinden, auch wenn viele dieser Aufrufe relativ fruchtlos verhallten. Aber dass dann auch noch unser größtes „ewig junggebliebenes“ Talent nach Berlin wechselt und das offensichtlich auch noch ablösefrei, müssen wir hinnnehmen. Wir sehen es auch als Lob und Anerkennung unserer und seiner jahrelangen Arbeit und werden weiter alles daran setzen, dass die quer weiterbestehen kann.
Und zum Schluss dieser Eloge bleibt nur noch eines: DANKE Rainer T.!

Lager auf den griechischen Inseln gesperrt

Ab sofort dürfen weder Besucher*innen noch Mitglieder von NGOs die Lager der Geflüchteten auf den griechischen Inseln betreten. Das teilte das griechische Migrationsministerium mit und begründete diese Maßnahme mit dem Ziel, einen Coronavirus-Ausbruch in den Lagern zu verhindern. Alle Aktivitäten sollen beendet und Einrichtungen in den Lagern wie Schulen, Bibliotheken und Übungsbereiche sollen geschlossen werden. Da diese meist von NGOs organisierten Aktivitäten jedoch oft die einzigen Lichtblicke in den völlig überfüllten und kaum versorgten Lagern waren, wird so die verzweifelte Lage der Geflüchteten noch dramatischer werden. Den Geflüchteten wird zudem untersagt, die Lager zu verlassen – auch nicht, um sich zu versorgen - oder sich in dem Gelände „ohne guten Grund“ zu bewegen. Wie aber dann die Versorgung sichergestellt werden kann und die existenziellen Bedürfnisse befriedigt werden können, das ist die große Frage.


Das Ministerium kündigte an, die sanitären Einrichtungen zu verbessern und sicherzustellen, dass alle Bereiche, die gemeinsam genutzt werden, regelmäßig gereinigt werden. Da dies jedoch in den letzten Jahren nicht geschehen ist, sind Zweifel angebracht, ob diese Ankündigung Realität werden wird.

Blick auf das Lager Moria durch einen Stacheldrahtzaun

Bild von Fotomovimiento, veröffentlicht unter CC BY-NC-ND 2.0

"Die medizinische Wohltätigkeitsorganisation Medecins Sans Frontieres (MSF) forderte [...] die griechischen Behörden auf, alle Lager zu räumen und ihre Bewohner auf das Festland zu bringen, um einen Ausbruch in den überfüllten und unterbesetzten Einrichtungen zu verhindern. "In einigen Teilen des Lagers Moria gibt es nur einen Wasserhahn pro 1.300 Menschen und keine Seife. Familien mit fünf oder sechs Personen müssen auf höchstens 3 m² schlafen", sagte Dr. Hilde Vochten, Ärztliche Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland, in einer Ankündigung, die sich auf das berüchtigte Lager Moria auf der ostägäischen Insel Lesbos bezog. "Dies bedeutet, dass empfohlene Maßnahmen wie häufiges Händewaschen und soziale Distanzierung zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus einfach unmöglich sind."
"Angesichts des Mangels an angemessenen sanitären Einrichtungen und der stark eingeschränkten medizinischen Versorgung ist das Risiko einer Ausbreitung des Virus unter den Bewohnern der Lager in Griechenland nach ihrer Exposition extrem hoch", sagte Ärzte ohne Grenzen.“ (Quelle)
Graffiti an einer Mauer: Frontex what will you tell your children?

Bild von Fotomovimiento, veröffentlicht unter CC BY-NC-ND 2.0

Bewegung „Leave no one behind“ gestartet

Die Evakuierung der Lager ist die einzig sinnvolle Option. Da die Unterbringung auf dem Festland jedoch nicht vorbereitet ist und es an allem mangelt, zudem vielerorts Abwehr zu erwarten ist, ist es ein Gebot der Humanität, dass andere EU-Länder Griechenland unterstützen und auch sofort Geflüchtete aus den Lagern aufnehmen – und zwar mehr als die ausgewählten 1500 Mädchen, deren Aufnahme das Innenministerium in Berlin vor der Coronavirus-Krise zugestimmt hatte.
Es hat sich in Deutschland eine Bewegung zur Evakuierung der Lager auf den griechischen Inseln gebildet, die von vielen Aktiven der Zivilgesellschaft sowie von Politiker*innen der Grünen und der Partei Die Linke getragen wird. In einer Petition zur Unterstützung dieser Bewegung heißt es u. a.: "Das Virus unterscheidet nicht nach Hautfarbe, Religion oder Geschlecht. Corona betrifft uns alle. Wir wollen dieser Herausforderung deswegen gemeinsam entgegentreten. Damit wir gewinnen und damit wir danach noch in den Spiegel schauen können. Damit das in Europa gelingt, müssen überfüllte Flüchtlingslager schnell evakuiert werden… Bricht die Epidemie in einem solchen Lager aus, wird es fast unmöglich sein, Ansteckungsketten zu unterbrechen. Wer jetzt nicht handelt, macht sich für die Katastrophe mitschuldig, die den Menschen in Not droht..." (Quelle) Zum Schluss wird in der Petition „Zugang zu Asylverfahren und Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit - besonders in Krisenzeiten
“ gefordert. Es geht nicht nur um Menschlichkeit, es geht auch um die zukünftige Verfassung der EU. Wird daraus eine reine Wirtschaftsunion und Freihandelszone mit geschlossenen Grenzen gegenüber Hilfesuchenden?

Verfasst von der quer Redaktion

Peter Kossen: "Arbeitsmigranten sind Hochrisikogruppe"

Pressemitteilung von 16.03.2020


Peter Kossen warnt angesichts der Corona-Pandemie vor einer massenweisen Infizierung der großen Gruppe ost- und südosteuropäischer Arbeitsmigrant*innen. In Deutschland gehören zu dieser Bevölkerungsgruppe dreieinhalb bis vier Millionen Menschen. „Aufgrund vielfach unmenschlich harter Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, in Ausstallkolonnen oder als Paketzusteller*innen und im Hinblick auf äußerst prekäre Wohnverhältnisse muss mit einer Vielzahl schwerer und tödlicher Verläufe der Corona-Erkrankung bei den Arbeiter*innen in diesen Branchen gerechnet werden“, so Kossen.
Er verweist auf die Erfahrungen seines Bruders, des Arztes Dr. Florian Kossen, der als Internist und Allgemeinmediziner tagtäglich Menschen behandelt, die als Arbeitsmigrant*innen z. B. in Großschlachtereien beschäftigt sind. „Die Totalerschöpfung dieser Menschen ist die Normalität“, sagt Kossen. „Dazu kommen zahlreiche Schnittverletzungen, aber auch wiederholte und hartnäckige Infekte durch mangelhafte hygienische Zustände in den Unterkünften und durch gesundheitswidrige Bedingungen an den Arbeitsplätzen.“ Ihre Schwerstarbeit in der Fleischindustrie, in Ausstallkolonnen, bei Gebäudereinigern und bei Paketdiensten wolle hier ja sonst auch keiner tun, so Kossen.
In den Schrottimmobilien, die häufig als Unterkunft dienten, und ihren oft viel zu kleinen, schlecht belüfteten und mehrfach belegten Zimmern finde man nicht selten ausgeprägte Schimmelbeläge an den Wänden, direkt neben den als Betten dienenden Pritschen. Wenn jetzt die Pandemie auf diese ausgelaugten, angeschlagenen und gedemütigten Menschen aus Ost- und Südosteuropa treffe, werde sie zahlreiche Opfer fordern, ist er ganz sicher. Die mangelnde Sprachkenntnis verschärfe das Problem. „Viele sprechen wenig oder gar nicht Deutsch. Da kommen Warnungen und Sicherheitsvorschriften nur bruchstückhaft oder überhaupt nicht bei den Adressaten an.“
Erschwerend hinzu komme die Tatsache, dass zunehmend ganze Familien von Arbeitsmigranten mit ihren Kindern in gesundheitsgefährdenden Unterkünften hausten. „Niemand fühlt sich zuständig“, sagt Kossen, „die Kommunen nicht und die Landkreise auch nicht, und die Leidtragenden sind wie immer die Schwächsten – die Kinder.“
Kossen fordert von den Unternehmen und den Behörden schnellstmöglich umfassende und wirksame Maßnahmen zum Schutz der Arbeitsmigrant*innen. „Zwölf-Stunden-Schichten an sechs Tagen die Woche, körperliche Schwerstarbeit unter ständigem physischen und psychischen Druck sowie Behausungen, die Erholung und Regeneration nicht zulassen, sondern die Gesundheit zusätzlich gefährden – solche Arbeits- und Lebensbedingungen liefern die Betroffenen und ihre Angehörigen wehrlos einer hochansteckenden und sehr gefährlichen Krankheit aus.“ Kossen sagt: „Wenn nicht wirklich schnell gehandelt wird, ist eine massenhafte Ansteckung mit zahlreichen schweren und auch tödlichen Verläufen wohl nicht mehr aufzuhalten!“

Peter Kossen ist Pfarrer aus Lengerich und Vorstandsmitglied der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) im Bistum Münster. Er solidarisiert sich seit vielen Jahren durch politisches Engagement mit Arbeitsmigrant*innen vor allem aus Osteuropa. Immer wieder macht der Geistliche auf deren unwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen aufmerksam – vor allem in der Fleischindustrie. Massiv hatte er als Prälat in Vechta, wo er bis Ende 2016 tätig war, die Missstände bei Werkverträgen, Zeitarbeit und Unterbringung vor allem von rumänischen und bulgarischen Arbeitern in der Fleischbranche des Oldenburger Münsterlands kritisiert.
Er findet immer wieder deutliche Worte, was ihm nicht nur Freunde macht, so wurde ihm in der Vergangenheit von Unbekannten ein abgezogenes Kaninchen vor die Türe gelegt. Selbst wertete er es als einen „Gruß aus der Fleischbranche“.

Tacheles:
Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise für einkommensschwache Haushalte

Ein umfassendes Forderungspaket an die Politik und Verwaltung

Logo von Tacheles e.V.

Logo von Tacheles e.V.

Eine Zusammenfassung der umfangreichen Forderungen an Politik und Verwaltung, die vom Erwerbslosen – und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. aus Wuppertal als Reaktion auf die Corona-Krise erarbeitet wurden:


[...] Insbesondere aufgrund des Wegfalls von Aufträgen und Arbeitsplätzen werden deutlich mehr Menschen als bislang auf staatliche Leistungen angewiesen sein... Denn neben den Menschen, die bereits jetzt Sozialleistungen beziehen (nach SGB II / SGB XII / AsyblG / KIZ / WoGG), werden auch Selbständige, Künstler*innen, Geringverdienende, Minijobber*innen und durch die Corona-Krise wirtschaftlich Strauchelnde auf soziale Leistungen der Arbeitslosenversicherung und Grundsicherung angewiesen sein.
Da es einkommensschwachen Haushalten in der Regel auch an entsprechenden Rücklagen fehlt, um die ausfallenden Einkünfte eine Weile lang auszugleichen, erlauben wir uns, eine Reihe von Vorschlägen zu machen, wie die Krise für alle Beteiligten abgefangen werden kann.

Im Folgenden haben wir deshalb 29 Vorschläge ausgearbeitet, die zum Teil sofort, zum Teil erst nach vorheriger Gesetzesänderung umgesetzt werden könnten und einen wertvollen Beitrag leisten würden, um die Versorgung aller Betroffenen sicherzustellen:

I. Finanzielle Zusatzleistungen

„Corona-Einmalzahlung“
- für SGB II-, SGB XII-, AsylbG-, KIZ-, WoGG- und geringverdienen Haushalte schlagen wir eine Einmalzahlung in Höhe von 500€, sowie in Höhe von 250€ für jede weitere Person vor
- Während der laufenden Corona-Krise sollten die SGB II-, SGB XII-, AsylbLG- Regelbedarfe um einen Corona-Zuschlag von 100€ erhöht werden
Anspruch auf Übernahme von Kosten für einen Computer zum Zwecke des E-Learning
- Es wird vorgeschlagen, für diese Haushalte einen Zuschuss von 350€ für einen Laptop und 100€ für einen Drucker, Papier und Tinte zu erbringen. Der Personenkreis sollte der gleiche sein, der Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket erhält oder erhalten könnte
Anspruch auf Übernahme von Kosten für einen Computer zur gesellschaftlichen Teilhabe
- sollten Menschen, die im SGB II-, SGB XII-, AsylbLG- Bezug sind, Leistungen in Höhe von 350€ zum Kauf eines Laptops oder Computers gewährt werden
Hilfen für Freiberufler*innen, Selbstständige, Künstler*innen und Kulturschaffende und in wirtschaftliche Not kommende Gewerbetreibende
- Die bestehenden Zuschuss- und Darlehensregelungen (§16c SGB II) sollten umfassend genutzt und zugunsten der Leistungsberechtigten ausgelegt werden. Der Höchstbetrag für Förderungen nach § 16c Abs. 1 S. 2 SGB II sollte angesichts der Krisensituation auf 20.000 € erhöht werden. Zudem sollte die Regelung von einer Kann-Regelung in eine Soll-Regelung umgewandelt werden und dahingehend modifiziert werden, dass diese Leistungen auf Zuschussbasis zu erbringen sind.

II. Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung

Aussetzen aller sanktionsbewehrten Meldetermine
- […] sollten die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter alle sanktionsbewerten Meldetermine nach § 309 SGB III und § 59 SGB II aufgeben, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren und den Menschen nicht eine zusätzliche Bedrohung in Form der vollständigen oder teilweisen Leistungsversagung aufzubürden. Dazu gehören auch alle Aufforderungen zum persönlichen Erscheinen nach § 61 SGB I.

Katze sitzt auf der Fensterbank und schaut nach draußen

Bild von Alexander Lyubavin, veröffentlicht unter CC BY 2.0

Zudem sollten die Sozialleistungsträger jede Belehrung mit Hinweis auf die vollständige oder teilweise Leistungsversagung im Regelfall aufgeben.
Befristete Aussetzung der persönlichen Arbeitslosmeldung im SGB III
- Arbeitslose müssen sich, um den Anspruch auf ALG I-Leistungen zu erhalten, binnen einer Woche persönlich arbeitslos melden (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 SGB III). Diese Regelung ist in der Zeit der Corona-Krise außer Kraft zu setzen.
Vereinfachtes Antragsverfahren
- keine Verweisung auf vorrangige Leistungen und Umsetzung der Regelung zur vorläufigen Leistungsgewährung und Vorschüsse
- Es sollte sichergestellt werden, dass das Antragsverfahren entbürokratisiert wird. So könnte u. a. die Zahl der einzureichenden Unterlagen vor der erstmaligen Leistungsgewährung deutlich auf das Notwendigste reduziert werden (z. B. nicht die Geburts- und Heiratsurkunde, vollständige Kontoauszüge der letzten Jahre usw). Die weiteren Unterlagen könnten dann im laufenden Bezug noch nachgefordert werden.
- Es sollte vorläufig eine formlose telefonische oder digitale Folgebeantragung im SGB II-, SGB XII-, AsyblG-, KIZ- und WoGG-Bezug akzeptiert werden.
- Die Versagung von SGB-II- Ansprüchen unter Berufung auf andere Träger sollte gestoppt werden. Mittel anderer Leistungsträger, die nicht konkret im Bedarfsmonat zufließen und zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehen, dürfen in keinem Fall zur Ablehnung von SGB II-Leistungen benutzt werden.
- Im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgung sollte umfangreich vom Instrument der vorläufigen Leistungsbewilligung Gebrauch gemacht werden. In Verfahren, in denen der Sachverhalt zwar noch nicht zur Gänze ermittelt ist, aber bei summarischer Prüfung geklärt ist, dass der Leistungsanspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit besteht, sollte eine Leistungsbewilligung innerhalb von zwei Wochen erfolgen.
Einfacher Zugang zur Beratungshilfe
- Die Regelungen zum Zugang zur Beratungshilfe müssen gelockert werden. Jedem*Jeder Bürger*in, der*die einen Beratungshilfeanspruch geltend macht und der*die die finanziellen Voraussetzungen dafür erfüllt, ist Beratungshilfe zu gewähren.
Fortführung der Finanzierung von Arbeitsmarktmaßnahmen
- Trägerkosten sind während der Corona-Krise weiter zu zahlen.
Aussetzung des Schriftformerfordernis bei Widersprüchen
- Nach § 84 Abs. 2 SGG bedürfen Widersprüche der Schriftform. Eine Mail, insofern sie nicht nach dem DE-Mail-Gesetz zertifiziert ist, erfüllt dieses Formerfordernis nicht. Unsererseits wird angeregt, diese Regelung für sechs Monate auszusetzen.
Verpflichtung zur Bestätigung von Anträgen, Widersprüchen, eingereichter Unterlagen innerhalb von zwei Wochen
- Für alle Sozialleistungsträger sollte geregelt werden, dass sie binnen einer Woche eine schriftliche Eingangsbestätigung zu geben haben.
Aussetzung der Regelung über Ortsabwesenheit und postalische Erreichbarkeit
- Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum in Zeiten von drohender Ausgangssperre eine Residenzpflicht bestehen soll. Es ist vielmehr auch den Leistungsbeziehenden die Möglichkeit zu geben in der Krisenzeit bei Freund*innen oder Angehörigen zu wohnen. Aus diesem Grund ist auch die Pflicht täglich und höchstpersönlich seine Post kontrollieren zu müssen, auszusetzen.
Monatsweise Zahlungsweise auch bei Wohnungslosen
- Damit Wohnungslose gesichert ihre Leistungen erhalten können, krankenversichert bleiben und sich in Corona-Notstandszeiten nicht in langen Schlangen anstellen müssen und sich dort infizieren können, ist die Leistungserbringung auf eine monatliche Auszahlung umzustellen. Ist kein Konto vorhanden, ist auf das „Barzahlen-System“ umzustellen, sodass die Auszahlung von Grundsicherungsleistungen an Supermarktkassen erfolgen kann.
Aussetzen von Pflichten in der Eingliederungsvereinbarung / Keine Pflicht zur Teilnahme an Maßnahmen / Kein Kostenersatz für Nicht-Teilnahme
- bis auf weiteres ist jede Pflicht von Leistungsbeziehenden, Bewerbungen vorzulegen, Termine einzuhalten oder an Maßnahme teilzunehmen, auszusetzen.
- Auch ist jede Pflicht zur Teilnahme an Arbeitsmarktmaßnahmen auszusetzen.
- Ebenfalls ist klarzustellen, dass bei Beendigung einer solchen Arbeitsmarktmaßnahme kein Kostenersatz wegen vorsätzlicher Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit nach § 34 SGB II ff geltend gemacht wird.
Sanktionsmoratorium für sechs Monate
- Für den Zeitraum von sechs Monaten ist:
- die Umsetzung von jeglicher Sanktion nach § 31, § 31a, § 32 SGB II komplett auszusetzen,
- die Umsetzung von Sperrzeiten nach § 159 SGB III, nach § 38 SGB III (verspätete Arbeitsuchend-Meldung), nach § 309 SGB III (Meldeversäumnis), nach § 45 SGB III (Ablehnung oder Abbruch einer beruflichen Eingliederungsmaßnahme) komplett auszusetzen.
Keine Sanktion, Sperrzeit und Kostenersatz bei Aufhebungsverträgen
- Wir fordern ein Sanktionsmoratorium für sechs Monate im SGB II/SGB III und keine Anwendung von Kostenersatzregelungen wegen vermeintlich vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführter Hilfebedürftigkeit nach § 34 SGB II.

III. Maßnahmen zur Wohnraumsicherung

Zwangsräumungen aussetzen, Miet- und Energieschuldenübernahme
Während der Corona-Krise darf kein Mensch wegen Mietschulden obdachlos gemacht werden.
- Die Regelung zur Mietschuldenübernahme im SGB II und SGB XII sind konsequent anzuwenden. Immer dann, wenn Schulden von mehr als zwei Monatsmieten angefallen sind, sollten Mietschulden im Rahmen des § 22 Abs. 8 S. 2 SGB II bzw. § 36 Abs. 1 S. 2 SGB XII übernommen werden.
- Zahlungsrückstände, die zu einem Abstellen der Energiezufuhr führen können (offene Beträge oberhalb von 100€), sind konsequent nach § 22 Abs. 8 S. 2 SGB II bzw. § 36 Abs. 1 S. 2 SGB XII zu übernehmen.
- Alternativ ist § 19 StromGVV und § 19 GasGVV dahingehend zu ändern, dass es für zunächst sechs Monate zu keiner Unterbrechung der Versorgung von Strom, Wasser, Gas oder Fernwärme kommen darf.
Zustimmung zur Anmietung von höherpreisigen Wohnungen
- Die SGB II-, SGB XII- und AsylbLG-Leistungsträger haben in der Corona-Krisenzeit deutlich höhere Unterkunftskosten anzuerkennen. Damit möglichst viele Menschen von der Straße wegkommen, ist bei den Unterkunftskosten bis zu 50% Mehrkosten als angemessen zu akzeptieren. Alternativ sind Kosten für Hotel- und Pensionszimmer in tatsächlicher Höhe zu übernehmen.
Aussetzung von Kostensenkungsaufforderungen / Begrenzung wegen fehlender Umzugserfordernis
- Für die nächsten sechs Monate hat bundesweit keine Kostensenkungsaufforderung wegen unangemessener Miete zu erfolgen.
- Alle laufenden Kostensenkungsaufforderungen der SGB II-, SGB XII- und AsylbLG- Leistungsträger sind für unwirksam zu erklären.
- Alle umgesetzten Kostensenkungsaufforderungen, in denen SGB II-, SGB XII- und AsylbLG–Beziehende Unterkunftskosten aus ihren Regelbedarfen zuzahlen, sind für zunächst sechs Monate auszusetzen und es sind die tatsächlichen Unterkunftskosten zu zahlen.
- Alle Begrenzungen der Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 S. 2 SGB II wegen fehlender Umzugserfordernis sind grundsätzlich aufzuheben.
Anspruch von Wohnungslosen auf Unterbringung in Pension / Hotel
- Wohnungslose, die nicht mehr auf der Straße leben wollen oder können, (sollen) einen Anspruch auf Unterbringung in einem Einzelzimmer haben.

IV. Ausweitung der Leistungsberechtigten

Anwendung der Härtefallregelung für Studierende
- Die Härtefallregelung in § 27 Abs. 3 S. 1 SGB II ist dahingehend zu ändern, dass es nicht mehr einer ‚besonderen‘ Härte, sondern einer ‚einfachen‘ Härte bedarf, um hier einen Leistungsanspruch zu ermöglichen.
Aussetzung der Tilgung von Darlehen, Ersatz- und Erstattungsansprüchen
- Für mindestens sechs Monate sind die Tilgung von Darlehens-, Ersatz- und Erstattungsansprüchen der SGB II-, SGB XII- und AsylbLG–Leistungsträger komplett einzustellen.
- Ebenfalls hat die Kindergeldkasse für mindestens sechs Monate auf die Geltendmachung von Forderungen wegen Erstattungsansprüchen zu verzichten.
Katze auf einer Mauer

Bild von Neil Alexander McKee, veröffentlicht unter CC BY-NC 2.0

Uneingeschränkter Zugang zu Sozialleistungen für EU-Bürger*innen / Menschen ohne regulären Leistungsanspruch
- Es dürfen bis auf weiteres keine Einstellungen von laufenden Leistungen nach SGB II erfolgen (etwa wegen Verlust des Arbeitnehmer*innen-Status bei Unionsbürger*innen). Der SGB-II-Anspruch darf nicht aus ausländerrechtlichen Gründen (‚Aufenthaltszweck für die Arbeitsuche‘) abgelehnt werden. Zumindest vorläufige Leistungen müssen schnellstmöglich gewährt werden.
- Es müssen bis auf Weiteres für alle nicht regulär leistungsberechtigten Unionsbürger*innen und Drittstaatsangehörigen ungekürzte Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3ff SGB XII erbracht werden. Die Befristung auf regelmäßig einen Monat darf schon deshalb nicht gelten, da eine Ausreise momentan faktisch nicht möglich ist. Die Erbringung von Überbrückungsleistungen darf nicht von der Erklärung eines ‚Ausreisewillens‘ abhängig gemacht werden.
- Nur durch eine solche extensive Anwendung der Regelungen zu den Überbrückungs- und Härtefallleistungen ist gewährleistet, dass auch Leistungen zur Sicherung der Gesundheit in angemessenem Maße erbracht werden können. Eine Unterbringung in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe bzw. eine ordnungsrechtliche Unterbringung muss bis auf weiteres unabhängig von einem Anspruch auf Sozialhilfeleistungen erfolgen. Konkret sollen diese Menschen ebenfalls einen Anspruch auf Unterbringung in einer Pension/Hotel haben. Auf eine Beendigung dieser Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft muss verzichtet werden. Niemand darf in die Straßenobdachlosigkeit gezwungen werden.
- Auf Leistungskürzungen im Rahmen des § 1a AsylbLG und auf den Vollzug von Leistungsausschlüssen nach § 1 Abs. 4 AsylbLG muss verzichtet werden. Schon mit ungekürzten Sozialhilfeleistungen ist es kaum möglich, das Existenzminimum in der gegenwärtigen Ausnahmesituation zu sichern.
- Die Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltstiteln darf bis auf weiteres nicht von der Sicherung des Lebensunterhalts abhängig gemacht werden.
Verlängerung von ALG I um ½ Jahr
Der Bewilligungszeitraum für ALG I-Leistungen ist um ein halbes Jahr zu erweitern.

V. Inhaftierung

Aussetzen der Haftantritte für Ersatzfreiheitsstrafen / Bagatelldelikte
- Alle Haftantritte wegen Bagatelldelikten, insbesondere Ladendiebstahl und Fahren ohne gültigen Fahrschein, sollten aufgehoben werden und in Geldstrafen umgewandelt werden. Alle Haftantritte für Ersatzfreiheitsstrafen sollten für ein Jahr aufgegeben werden.
Öffnung der Abschiebegefängnisse
- In Zeiten der Corona-Krise und weltweiter Grenzschließungen sind keine Abschiebungen möglich. Damit entfällt der Haftgrund. Es sind daher alle Abschiebehäftlinge zu entlassen.

Weitere notwendige Änderungen

Kurzfristige Erhöhung der Mittel für Frauenhäuser
- Es ist notwendig, die Frauenhäuser mit weiteren Mitteln auszustatten, damit weitere Unterkünfte für gewaltbedrohte Frauen geschaffen werden. Auch muss sichergestellt werden, dass derzeit aus den Existenzsicherungssystemen SGB II und SGB XII ausgeschlossene Frauen Anspruch auf Übernahme der Frauenhauskosten und Anspruch auf Existenzsicherungsleistungen in den Frauenhäusern haben.
Sozialberatung muss ausgebaut und gestärkt werden
- Die Reduktion der Beratungs- und Unterstützungsstrukturen in NRW muss sofort gestoppt werden. Es ist ein Sonderfinanzierungsprogramm zum Aufbau und Förderung von Erwerbslosen- und Sozialberatung zu schaffen.
Das vollständige Forderungspaket ist vom Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. aus Wuppertal verfasst worden. Die hier veröffentlichte Version ist eine gekürzte Zusammenfassung.
Die komplette Version kann hier nachgelesen werden.

Offener Brief der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg

Die Corona-Epidemie und die Existenzsicherung der Bürger*innen

Täglich scheint sich die Lebenssituation der Menschen in Deutschland zu verändern. Schon vor Tagen hat die Bundesregierung versprochen, alles Mögliche zu tun, um die Unternehmen vor einer Insolvenz zu retten. Vieles wird dafür getan bzw. angekündigt und das ist auch gut so. Aber was ist mit den normalen Bürger*innen?


Millionen von Menschen sind auf Sozialleistungen angewiesen. „Hartz IV“, Sozialhilfe und anderes wie BAföG, Kindergeld, Kinderzuschlag usw. Und es ist damit zu rechnen, dass zigtausend Menschen in den nächsten Tagen und Wochen dazukommen. Freiberufler*innen, Künstler*innen, Honorarkräfte, Leiharbeiter*innen, Beschäftigte in der Probezeit oder von sog. Subunternehmen verlieren ihre Aufträge bzw. Verträge und stehen oft bald ohne Geld zur Finanzierung ihrer Lebenshaltungskosten da. Firmen werden ihre Mitarbeiter*innen entlassen, z. B. massenweise in der Gastronomie. Die dafür zuständigen Ämter sind weitgehend geschlossen.
Am Beispiel der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II = Hartz IV) sollen hier einige der Problemlagen aufgezeigt werden. Es ist zu begrüßen, dass die Ämter weitgehend geschlossen werden und somit die Infektionskette möglichst unterbrochen wird. Die Ankündigung, dass keine Meldeversäumnisse sanktioniert werden, ist ein richtiger Schritt. Auch der Hinweis, dass die Leistungen weiter gezahlt werden, ist zu begrüßen – allerdings sollte das selbstverständlich sein.
Es wird so dargestellt, als ob Telefonkontakte die meisten Probleme lösen könnten. Die Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO) und bundesweit zig andere Beratungsstellen haben spätestens seit Einführung von Hartz IV ganz andere Erfahrungen gemacht.
Absolut offen bleibt, wie mit Neuanträgen umgegangen wird - mit denen in großer Menge zu rechnen ist (s. o.). Ein Onlineangebot ist für viele Betroffene eine unüberwindbare Härte. Selbst einen Antrag auszudrucken, dafür fehlt vielen die Möglichkeit. Offen bleibt auch, wie mit Weiterbewilligungsanträgen, nach Ablauf der Bewilligung, umgegangen wird.
In beiden eben genannten Fällen fordern die Leistungsträger (Jobcenter oder optierende Kommunen) oft zahlreiche Unterlagen nach (Kontoauszüge, Anlage Vermögen usw.). Wie soll das zügig bearbeitet werden, ohne dass die Bürger*innen in finanzielle Schwierigkeiten kommen?

Nicht nur bei Hartz IV, sondern auch in der Sozialhilfe, bei ausländerrechtlichen Angelegenheiten (Asylbewerberleistungsgesetz und anderes), beim BAföG, Kindergeld, Kinderzuschlag usw. wird über existenzsichernde Leistungen entschieden. Hier muss unbedingt und unverzüglich ein Verwaltungshandeln angelegt werden, das die Existenzsicherung aller Menschen in Deutschland gewährleistet.

Aus dem oben Genannten ergeben sich folgende Forderungen, um die Existenzsicherung aller zu garantieren:

- (Erst-)Antragsstellung formlos ermöglichen. Dazu Hinweise zur erleichterten Beantragung und Bewilligung veröffentlichen.
- Bereitstellung eines minimalen Antragsblattes, das frei zugänglich ausgelegt wird. Dies auch als mehrsprachiges Angebot.
- Eingangsbestätigungen sofort – und wenn es durch einen Briefschlitz gehandhabt wird. Oder: Bereitstellung öffentlicher, kostenfreier Faxgeräte zur Antragstellung usw.
- Kurze Bearbeitungszeiten (max. 14 Tage) und Vermeiden von komplizierten Antragsstrukturen statt x-fachen Hin- und Herbriefverkehrs, womit Antragsbewilligungen vermieden werden.
- Anerkennung von Ansprüchen, auch wenn die Voraussetzungen nicht 100-prozentig geklärt sind (z. B. nach Aufhebung von Arbeitsverträgen oder bei Vermutung von angeblichen Vermögen bei Lebensversicherern).
- Einer „Verschwendung“ von Steuermitteln kann entgegengewirkt werden, wenn z. B. Hartz-IV-Leistungen nach § 41 a SGB II vorläufig entschieden werden, was häufig schon verbreitete Praxis der Jobcenter ist. So können später evtl. zu viel gezahlte Leistungen zurückgefordert werden.
Eine unbürokratische Lösung schlägt eine Petition auf change.org vor. „Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen durch die Coronakrise“. Hier wird „die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens von 800-1200 € pro Person für 6 Monate“ gefordert.
Wir erwarten von der Bundesregierung, der Bundesagentur für Arbeit, den Jobcentern, den optierenden Kommunen und allen anderen öffentlichen Trägern, die für die Grundsicherung im weiteren Sinne zuständig sind, schnelle und unkomplizierte Lösungen. Die Unterstützung von Unternehmen ist wichtig – aber: die finanzielle Existenzsicherung der Bürger*innen ist zwingend notwendig!

i. A. für die ALSO
Siegmund Stahl

Jetzt ist Corona – und was kommt dann?

Jetzt sind wir noch alle mit Corona bzw. dessen Auswirkungen irgendwie beschäftigt bzw. davon beeinträchtigt. Wenn man zynisch sein möchte, könnte man behaupten, dass der Hartz-IV-Bezug eine gute Vorbereitung auf die Quarantäne war, denn durch den Mangel an sozialer Teilhabe, der damit ermöglicht wurde, sind vielen Betroffenen Einsamkeit und Isolation durchaus sehr vertraut.
Und durch Mietobergrenzen und die Wohnungsnot ist es für viele sogar schwieriger, als denn mal eben sich in seinem Einfamilienhaus auf 120 qm mit Garten in Quarantäne zu begeben.



Gartenzaun mit einem gelben Schild mit der Aufschrift:

Bild aus der quer Redaktion

Doch bei allen Ängsten und Sorgen sollten uns die vielen Zeichen der Solidarität doch auch Mut machen. Das „neoliberale Dogma“ vom Eigenmanagement und „Jeder ist sich selbst der Nächste“ ist glücklicherweise bisher nicht weiter als bis zum Klopapier gekommen.
Lasst uns dafür Sorge tragen, dass diese Dogmen mit dem Papier dann auch in den Orkus gespült werden.
Aber auch Sorgen sollten wir uns machen: Es droht eine dumpfe Reduktion auf nationale Interessen und nationalen Eigennutz. Auch hier erweist sich die Europäische Union bisher wieder als handlungsunfähig. Und haben nicht gerade ihre Defizitvorgaben und Sparauflagen zu Kürzungen im Gesundheitssektor geführt?
Die Situation von Geflüchteten ist nicht nur in Griechenland eine Katastrophe und völlig außerhalb des Fokus der breiten Öffentlichkeit geraten, sondern auch in vielen anderen Ländern. (Das „Dublin Abkommen“ ist ausgesetzt und Abschiebungen finden weiter statt.)
Gerade der Virus zeigt doch eines: Wie sinnlos und dumm das Denken in nationalen oder imperialen Denkstrukturen ist, denn für den Virus sind wir das, was wir tatsächlich sind: Menschen auf diesem Planeten.

Relativ klar wird gerade aufgezeigt, welche „Schwächen“ in unseren Gesellschaften vorhanden sind und welche Gefahren darin liegen, wenn der Staat die Rechte und das Gemeinwohl der Bürger*innen den Profitinteressen des Kapitals aussetzt.
Deshalb ist es schon jetzt an der Zeit, anfänglich und vor allem ausdrücklich Forderungen zu formulieren für die Zeit nach Corona.

Selbstverständlich sind diese Forderungen nicht vollständig. Weder vollständig in ihrer Gesamtheit noch vollständig in ihrer Qualität / ihrem Ausdruck. ABER: Die Forderungen stehen im gesellschaftlichen Raum und müssen diskutiert und in der einen oder anderen Form umgesetzt werden.
So, hört ihr sie schon? Die, die schreien: Wer soll das alles bezahlen? Na, nicht der einkommensarme Mensch, wie es häufig so ist, sondern diejenigen, die durch die Arbeit anderer reich werden bzw. reich geworden sind.
Und da ja gerade die Angst vor Arbeitskräftemangel in der Erntezeit umgeht und mal wieder auf Geflüchtete und Arbeitslose geschielt wird, die es dann zu einem Hungerlohn machen sollen:
Nehmt alle Lobbyist*innen aus Berlin und Brüssel und schickt sie auf die Felder, aber bezahlt sie gut, denn wer harte ehrliche Arbeit macht, soll auch anständig davon leben können …
Das ist euch alles zu einfach gestrickt? Zu polemisch? Okay!!! Dann macht doch bitte andere, bessere Vorschläge! Es ist Zeit, sich einzumischen und sich zu engagieren… Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ergänzungen ausdrücklich erwünscht! Und dann: Lasst uns diskutieren!

Drei Kontrolleuchten, Alarm, Warning und Power. Alarm und Power sind aktiv.

Bild von John Blackbourn, veröffentlicht unter CC BY-NC 2.0

Verfasst von sst & rl aus der quer Redaktion

FAQ: Sozialer Schutz gegen Folgen von Corona

Antworten auf häufige Fragen

- von Beschäftigten, die auf Kurzarbeit geschickt werden oder denen eine Kündigung droht;
- und von Menschen, die aktuell, z. B. als Solo-Selbstständige, von Einkommensverlust betroffen und in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind;
- von Arbeitslosen, die bereits Arbeitslosengeld von der Agentur für Arbeit oder
Arbeitslosengeld II vom Jobcenter bekommen.

An dieser Stelle möchten wir auf die Ausführungen vom Förderverein gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit e.V. - Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppenaus Berlin verweisen. Diese sind am 25.03.2020 veröffentlicht worden und lesenswert!
Inhaltlich geht es um Kurzarbeiter*innengeld, Arbeitslosengeld, Hilfen für Kleinunternehmer*innen und Solo-Selbstständige, Hilfen für Mieter*innen und Besitzer*innen von Wohneigentum, Wohngeld, Kinderzuschlag, Arbeitslosengeld II („Hartz IV“), Grundsicherung im Alter und bei dauernder Erwerbsminderung und Sozialhilfe.

Sozialleistungsausschlüsse für Ausländer*innen müssen ausgesetzt werden!

Überleben muss für alle gesichert werden – Unterbringung bei Obdachlosigkeit muss gewährleistet sein – Leistungsausschlüsse und -kürzungen für Ausländer*innen müssen ausgesetzt werden!

Die gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (kurz: GGUA) fordert vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Ausnahmesituation der Corona-Krise die Sozialämter und Jobcenter auf, für alle Menschen in Deutschland das dringend notwendige Existenzminimum zu sichern. Es darf nicht sein, dass in einer Situation wie jetzt Menschen auf der Straße leben müssen oder keinerlei Mittel für ihr Existenzminimum haben. Auch für EU-Bürger*innen ohne regulären Leistungsanspruch, Geflüchtete und andere Drittstaatsangehörige muss nun das menschenwürdige Existenzminimum sichergestellt werden. Eine sichere und angemessene Unterkunft und die finanziellen Mittel für Vorsorge, Hygiene und Lebensmittel sind erst Recht in der momentanen Situation unabdingbar. Niemand darf gezwungen werden, auf der Straße zu leben und zu hungern. Zugleich haben viele Einrichtungen der solidarischen Notversorgung (Tafeln, ehrenamtliche Notfallmedizin usw.) ihren Betrieb eingestellt oder eingeschränkt.


Deshalb darf gerade in der derzeitigen Notsituation nicht an Ausschlüssen oder Kürzungen von existenzsichernden Leistungen für bestimmte ausländische Staatsangehörige festgehalten werden. Betroffen davon sind in bestimmten Fällen nicht erwerbstätige EU-Bürger*innen, Drittstaatsangehörige mit einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche (z.B. Fachkräfte nach Verlust der Arbeit oder nach Abschluss eines Studiums) sowie in bestimmten Fällen Geflüchtete, die keinen Anspruch auf reguläre Sozialhilfeleistungen nach SGB II oder XII haben. In der Folge besteht oftmals auch kein ausreichender Krankenversicherungsschutz. Eine Unterbringung in Wohnungsloseneinrichtungen wird oft an den Sozialleistungsanspruch geknüpft, so dass in manchen Fällen (Straßen-) Obdachlosigkeit besteht. Gerade diese Personengruppen unterliegen aufgrund einer extrem prekären Lebenssituation einem erhöhten Infektionsrisiko.
Auf der anderen Seite hängt die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels (z.B. für Fachkräfte, aber auch für Freiberufler*innen) oft von einem eigenständig gesicherten Lebensunterhalt ab. Von dieser Voraussetzung muss nach unserer Überzeugung in der gegenwärtigen Situation abgesehen werden, da sie für viele Betroffene aus unverschuldeten Gründen nicht mehr erfüllt werden kann.

Daher fordern wir die Kommunen auf:


Diese Forderungen veröffentlichte die GGUA am 20.03.2020 und sie können hier nachgelesen werden.

Das Existenzminimum ist unteilbar

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 05. November 2019 festgestellt, dass Sanktionen nicht der Erziehung, Bestrafung oder Repression dienen dürfen. Sie sind lediglich dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn sie evident (also wissenschaftlich erwiesen) dem Ziel der eigenständigen Existenzsicherung dienen. Die Beweislast ist umgekehrt worden, nun muss das Jobcenter im Zweifelsfall nachweisen, dass die Sanktionen in Länge und Höhe angemessen sind und tatsächlich dem Ziel einer selbstständigen Existenzsicherung dienen. Das wird auf die reale Sanktionspraxis sehr große Auswirkungen haben und die Anzahl der Sanktionen massiv reduzieren.


Bei vielen offensichtlich sinnlosen Maßnahmen dürfte es kaum möglich sein nachzuweisen, damit eine eigenständige Existenzsicherung zu fördern. Insofern kann das Fernblieben bei diesen dann auch kaum mehr sanktioniert werden. Hat eine Bewerbung auch wirklich das Potential, danach den Lebensunterhalt zu sichern? Oder wird die angebotene Stelle dafür zu gering entlohnt.  Erhöht das X-te Bewerbungstraining wirklich die Chance auf eine Anstellung? Ist es der psychischen Verfassung dienlich, Druck auszuüben, oder wird damit die Erwerbsperspektive sogar verschlechtert?

Sanktionen über 30% nicht mehr zulässig

Zudem hat das Bundesverfassungsgericht Sanktionen oberhalb der 30% für nicht zulässig erklärt, da hierfür das Ziel, einer eigenständigen Existenzsicherung förderlich zu sein, nicht nachgewiesen sei oder sogar ernsthaft bezweifelt wird. Des Weiteren muss es dem Sanktionierten möglich sein, durch eine Verhaltensänderung die Sanktion zeitnah (max. 1 Monat) wieder zu beenden.
Nicht untersucht wurden in diesem Verfahren die Ungleichbehandlung von unter 25-Jährigen und die 10% Sanktionen bei Terminversäumnissen. Auch die Höhe des Existenzminimums wurde nicht erneut geprüft, nachdem die Art der Berechnung im Urteil vom 9.2.2010 schon als nicht verfassungsgemäß bemängelt worden war. Klargestellt wurde allerdings, dass das Existenzminimum inclusive der soziokulturellen Teilhabe gilt und unteilbar ist. Eine Unterscheidung in physische und soziale Existenz ist somit ausgeschlossen worden.
Was bleibt, ist die grundsätzliche Ausrichtung auf das Ziel, dass jeder seine Existenz selbst sichern soll. Und um dieses Ziel zu erreichen, erlaubt das Gericht auch in der Zukunft Sanktionen. Eine Änderung dieses Prinzips war meines Erachtens auch nicht zu erwarten. Und sei es aus der Perspektive von Grundeinkommensbefürwortern auch noch so wünschenswert.

Riesiges Poster auf einem Platz, von oben fotografiert: What would you do if
            your income were taken care of?

Bild von Generation Grundeinkommen, veröffentlicht unter CC BY 2.0

Wer ist für die Existenzsicherung zuständig – alle gemeinsam oder jeder selbst?

Denn hier kommt ein wesentlicher Unterschied zwischen einer Grundsicherung (mit oder ohne Sanktionen) und dem Grundeinkommen zum Tragen. Grundsicherung füllt die Lücken, wo die Existenz nicht selbstständig gesichert wird. Ob das Erwerbsarbeit ist, Vermögen oder Leistungen aus den Sozialversicherungen wie Rente oder Krankengeld, ist dem Gesetzgeber egal. Die Bedürftigkeit wird geprüft und nur wenn es keine andere Quelle gibt, springt die Grundsicherung ein.
Beim Grundeinkommen wird die Frage danach, wer für die Existenzsicherung zuständig ist grundsätzlich anders beantwortet. Nicht mehr jeder für sich selbst, sondern alle gemeinsam – als Staat.
Ein Grundeinkommen bekäme jeder. Egal ob Rentner, Erwerbstätiger, Privatier, Familienangehöriger oder „Bedürftiger“. Die Existenz aller wäre durch das Grundeinkommen gesichert. Der Rest käme (ggf. nach anderer Berechnungsgrundlage oder auch höher versteuert) oben drauf. Die Pflicht, sich in die Gesellschaft einzubringen, bestünde weiterhin. Aber sie würde nicht mehr unter Androhung von Entzug der Existenzgrundlage durch den Staat eingefordert.
Mit einem Grundeinkommen könnte niemand mehr gezwungen werden, eine Arbeit anzunehmen, die er selbst nicht für zumutbar hält. Ein moralischer und sozialer Druck, sich aber trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen, weil er nicht gezwungen werden kann, einzubringen, besteht weiterhin. Diese Komponenten würden sogar noch wichtiger werden, wenn das Geld als Belohnung einen geringeren Stellenwert erhielte. Das Grundeinkommen sichert die Existenz. Die Frage, was jemand mit seinem Leben macht, wird damit aber nicht beantwortet.
Wünschenswert und durchaus denkbar wäre es, dass mit einem Grundeinkommen auch andere Arten, sich sinnvoll in die Gesellschaft einzubringen, aufgewertet werden würden. Egal ob im ehrenamtlichen, kulturellen, sozialen oder im familiären Bereich. „Was machst Du so?“ würde immer noch gefragt werden. Die Antworten darauf könnten vielfältiger ausfallen und würden nicht mehr von „und davon kannst Du leben?“ gefolgt werden.

Grundprinzip der Bedürftigkeit in Frage stellen

Dieses Umdenken, diesen Paradigmenwechsel von einer Grundsicherung zum Grundeinkommen werden wir nicht vom Bundesverfassungsgericht serviert bekommen. Dieser grundlegende Perspektivwechsel muss in der gesellschaftlichen Breite verankert und in der Politik umgesetzt werden. Im Widerspruch zum Grundgesetz würde es nicht stehen, denn die Verfassungsrichter legen nicht fest, wie das Existenzminimum gesichert werden muss. Das Sozialstaatsprinzip mit Bedürftigkeitsprüfung und dem Ideal der selbstständigen Existenzsicherung ist nicht der einzige Weg dahin.


Dieser Text ist am 07.11.2019 auf blog.baukje.de erschienen. Die Autorin, Baukje Dobberstein, arbeitet als Ärztin und Psychotherapeutin. Jeden Tag wird sie damit konfrontiert, dass das Arbeits- und Sozialsystem die Menschen krank macht: Diejenigen, die schon arbeitslos sind, aber auch alle anderen, die Arbeitsbedingungen akzeptieren die sie krank machen, weil sie Angst vor einem repressiven Sozialsystem haben. Deswegen tritt sie für das Bedingungslose Grundeinkommen ein und schreibt auf ihrem Blog regelmäßig über das Thema. Sie lebt in Hannover.

Klimaschutz - auf Kosten der Ärmsten?

Im Jahr 2019 erklomm mit den X4Future-Bewegungen ein neues Subjekt die politische Bühne – das klimapolitische. Inhaltlicher Kern dieser Bewegung ist das Einfordern konsequenter und damit radikaler Klimapolitik, die die Einhaltung der in Paris und anderswo proklamierten Reduktionsziele ermöglicht. Diese soll angesichts der Dringlichkeit Priorität haben, koste es, was es wolle: Wenn Änderungen innerhalb des Systems nicht möglich seien, müsse man eben das System ändern, so etwa Greta Thunberg.

senkrechte Streifen in Blau- bis Rottönen. Blaue Streifen eher links, rötlicher werdend nach rechts Die sogenannten Warming Stripes visualisieren die Temperaturveränderungen auf der Erde von 1850 - 2018. Für jedes Jahr steht ein senkrechter Streifen. Kältere Jahre haben einen blauen Ton, wärmere Jahre haben eine roten Ton. Die Warming Stripes wurden von Wissenschaftler*innen um den Klimaforscher Ed Hawkins, entwickelt. Auf Warming Stripes von bestimmten Regionen ansehen gibt es Warming Stripes für viele Regionen. #ShowYourStripes


„Koste es, was es wolle“ gilt aber auch konkreter: Eine der - relativ wenigen - konkreten umweltpolitischen Vorschläge besteht in der Forderung nach einem hohen CO2-Preis, etwa 180 €/t CO2, wie ihn auch viele Klimaökonom*innen fordern. Hier taucht natürlich sofort die kritische Frage nach der sozialen Wirkung auf: Wird hier Klimaschutz auf Kosten der Ärmsten gefordert?

Klimaschutzprogramm der Bundesregierung

Als Reaktion auf die Proteste verabschiedete die Bundesregierung Ende 2018 ein sogenanntes Klimaschutzprogramm, das hinter diesen Forderungen der Klimaschutz-Bewegung weit zurückbleibt. Zwar wird ein Einstieg der CO2-Bepreisung in den Sektoren Mobilität und Wärme beschlossen, aber auf sehr niedrigem Niveau: Ab 2021 soll die Tonne CO2 10€ kosten, ansteigend bis 2026 auf 35€. Ab 2026 soll der Preis dann am neu zu gründenden deutschen Emissionszertifikate-Markt für Wärme und Mobilität[1] zwischen 35 und 60€ gebildet werden.
Was würde dies für die Gebäudebeheizung bedeuten?
- Ein Preis von 10 €/t verteuert Gas um etwa 4% gegenüber dem jetzigen Preis[2].
- Bei 35 €/t im Jahr 2026 würde dies einen Anstieg von 14% bedeuten[3]. Das kann als sehr moderat bezeichnet werden.
- Ein Preis von 180 €/t hingegen würde den Gaspreis um 72% verteuern[5].
Beim Kraftstoff ergibt sich ein ähnliches Bild. 10 €/t bedeuten hier etwa 2 ct/Liter, bei 35 €/t wären es 7 ct/Liter, bei 180 €/t ca. 40 ct/Liter.[5].

2 rauchende Schornsteine Bild von Ian Britton, veröffentlicht unter CC BY-NC 2.0

Die Bundesregierung benennt explizit die Sozialverträglichkeit der Klimapolitik als Ziel: „Jede und Jeder wird in der Transformation zurechtkommen, auch bei kleinem Einkommen“. So sind die CO2-Preise so gering, dass sie kaum jemandem wehtun – weder bieten sie den Hersteller*innen und Verbraucher*innen einen Anreiz zum Umsteigen/Aussteigen aus der Nutzung fossiler Heiz- und Brennstoffe, noch stellen sie eine merkliche finanzielle Belastung dar. Selbst diese kleinen Preisanstiege sollen kompensiert werden durch Entlastungen beim Strompreis: So soll etwa die EEG-Abgabe gekürzt werden, da sie zukünftig zunehmend aus den Einnahmen aus der CO2-Bepreisung bei Verkehr und Mobilität finanziert werden soll. Dasselbe ist für weitere - zahlenmäßig geringer ins Gewicht fallende - Abgaben im Zusammenhang mit der Finanzierung der Energiewende[6] angedacht.

Belastung des ärmeren Teils der Bevölkerung

Transferbezieher*innen werden durch das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung - zumindest direkt - keine Verschlechterung ihrer materiellen Lage erfahren. Der Anstieg der Wärmekosten um 14% – fossile Beheizung vorausgesetzt – würde im Rahmen der Zahlung der Kosten der Unterkunft oder des Wohngeldes übernommen, sofern nicht Obergrenzen[7] überschritten werden. Allerdings sollen diese Obergrenzen laut Klimaschutzprogramm um 10% angehoben werden.
Die Kosten für beruflich erzwungene und private fossile PKW-Nutzung würden bei Transferbezieher*innen um 7% steigen, wenn sie ein Auto haben und dieses so nutzen. Vor allem wären Aufstocker*innen, die auf dem Land leben, betroffen. Vom geplanten Ausgleich durch die Erhöhung der Pendlerpauschale werden Arme nichts haben, da sie eh keine Einkommenssteuer zahlen.
Beim Strom würde sich die materielle Situation dagegen verbessern, weil die daran gekoppelten Abgaben nach dem Konzept der Bundesregierung sinken sollen.
Unterm Strich kann festgehalten werden, dass sich die Situation für Transferempfänger*innen - zumindest durch die direkten Erhöhungen - nicht verschlechtern würde.
Wie sähe dies bei deutlicherer Klimapolitik mit 180 €/t aus? Die Wärmekosten würden um 70% steigen, was in mehr Fällen die Obergrenzen für Kosten der Unterkunft und Wohngeld überschreiten würde. Sie müssten daher stärker erhöht werden. Bei der privaten fossilen Mobilität wäre der Anstieg mit etwa 30% deutlicher, bei 10.000 km/Jahr bzw. 30 km/Tag würde dies mit 300-400 € jährlichen Mehrkosten verbunden sein.

Wie würden sich 180 €/t auf den Strompreis auswirken?

Schon heute gehen in den Strompreis etwa 20 €/t CO2[8] ein. Würden dort 180 €/t realisiert, würde der Preis für fossilen Strom ca. 25%[9] steigen. Solange der Warenkorb zur Berechnung des Existenzminimums nicht angepasst wird, wäre dies für einen 4-Personenhaushalt[10] eine Mehrbelastung von 262 €/Jahr.
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass das gegenwärtige Klimaschutzprogramm der Bundesregierung Transferbezieher*innen - mit kleinen Ausnahmen bei der PKW-Mobilität - nicht belasten würde. Bei klimapolitisch anspruchsvolleren CO2-Preisen gilt dies nur bei entsprechend hohen Anpassungen der Warenkörbe und Wohngeldgrenzen.
Ganz anders sieht es aus bei dem ärmeren Teil der Bevölkerung, der keine Transfers erhält. Er ist durch steigende Preise für fossile Brenn- und Kraftstoffe stärker betroffen, da er keinen Ausgleich für diese Preiserhöhungen erhält. Im Klimaschutzprogramm der Bundesregierung ist ein solcher zumindest partiell vorgesehen: Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung im Wärme- und Verkehrsbereich sollen den Strompreis senken. Dieses jetzt begonnene Prinzip könnte prinzipiell auch bei höheren CO2-Preisen fortgesetzt werden.
Doch zwei Probleme folgen daraus: Ein geringerer Strompreis konterkariert die Steuerungswirkungen, die durch Verteuerung im Wärme- und Verkehrssektor erreicht würden. Zum anderen kann in - evtl. vielen - Einzelfällen die Belastung durch höhere Wärmepreise höher sein als die Entlastung: zum Beispiel bei Bewohner*innen schlecht gedämmter Altbauwohnungen, die sparsam mit Strom umgehen.

Vermeidung fossiler Energien ohne Kostenerhöhungen?

Es bleibt die Frage, ob eine Vermeidung fossiler Energien in den drei zentralen Lebensbereichen Wärme, Verkehr und Elektrizität nicht solche Kostenerhöhungen umgehen kann. Die Absicht der Bepreisung ist ja gerade der forcierte Umstieg auf erneuerbare Energien. Dieser wird jedoch seinen Preis haben. Der laufende Betrieb mit erneuerbaren Energien ist zwar günstiger - „die Sonne schickt keine Rechnung“. Doch dafür muss zunächst viel investiert werden, und diese Kosten werden umgeschlagen werden auf die Wärme- und Strompreise. Dies wird auch für Strom aus erneuerbaren Energien gelten, wenn das fossile Angebot sich verknappt, sei es durch Preiserhöhung oder verschärfte Ordnungspolitik wie einen schnelleren Kohleausstieg.
Es werden dann mehr Erneuerbare-Energien-Quellen mit höheren Erzeugungskosten[11] genutzt werden, die Preise der Erneuerbaren werden sich den höheren Preisen der Fossilen anpassen. Ähnliches gilt für den Wärmesektor. Investitionen in Wärmedämmung und postfossile Wärmeerzeugung - wie z. B. Wärmepumpen - sind sinnvoll, aber teuer. Sie werden über Kaltmieten wieder hereingeholt, deren Anstieg aller Erfahrungen nach deutlich höher ist als die vermiedenen Energiekosten.
Natürlich kann dies alles staatlich subventioniert werden. Diesem Vorgehen sind aber Grenzen gesetzt: Bezuschusst der Staat die privaten Investitionen nur gering, ist der Anreiz zur energetischen Sanierung nach wie vor gering. Bezahlt er mehr, finanziert er eine private Wertsteigerung der Immobilienbesitzer*innen.
Auch eine Pflicht zur Erstellung eines energetischen Sanierungsfahrplans, Haus-Tüv genannt, als Alternative zur Bepreisung von CO2, wie von der Linksfraktion aktuell in ihrem Aktionsplan Klimagerechtigkeit vorgeschlagen, führt aus diesem Dilemma kaum heraus: Auch diese Kosten würden auf die Kaltmieten gehen oder bei „kleinen“ Eigennutzern direkt getragen werden. Ob die vorgeschlagenen Verbote zur Nicht-Überwälzung der Sanierungskosten an die Mieter*innen ausreichen, um dauerhaft die Mieten nicht ansteigen zu lassen, ist fraglich. Vielleicht hilft hier dann wirklich nur der allgemeine Mietendeckel.
Generell bleibt festzuhalten: Anspruchsvoller Klimaschutz, ob durch Ordnungsrecht oder ökonomische Instrumente umgesetzt, wird sich nach Maßstäben der Klimagerechtigkeit, die sowohl inter- als auch intranational buchstabiert werden muss, nur realisieren lassen in einer Gesellschaft mit weniger Armut und größerer ökonomischer Gleichheit.

[1] Für Strom gibt es ein entsprechendes Zertifikate-Handelssystem bereits auf EU-Ebene

[2] Um etwa 0,2 ct/kWh gegenüber dem jetzigen Preis von etwa 5 ct/kWh.

[3] Ein Anstieg von 0,7 ct/kWh

[4] Der Gaspreis würde um 3,6 Ct/kWh steigen.

[5] Allerdings würde die Verteuerung prozentual geringer ausfallen, da der aktuelle Preis aufgrund der Mineralölsteuer schon höher ist: jeweils 1,5%, 5% und 30% Erhöhung.

[6] Netzausbau etc.

[7] Auf der Basis von Warmmieten berechnet

[8] Der aktuelle Preis im europäischen Emissionshandel

[9] Um 7,6 ct/kWh beim gegenwärtigen Strom-Mix

[10] Bei 3.500 kWh/Jahr

[11] Weniger Erträge auf schlechteren Flächen etc.


Der Autor Ulrich Schachtschneider ist Energieberater, Bildungsarbeiter und freier Sozialwissenschaftler und lebt in Oldenburg.

Arbeitslos, erwerbslos, Schmarotzer oder Parasit?

Ein persönliches Fazit von einem Aktivisten der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg

Hilfebedürftigkeit? Anrechenbares Vermögen. Schonvermögen. Anlagen MEB, BB oder UH1-4, Anlage VÄM. Auch noch Anlage EK, Anlage VM, Anlage EKS. Anrechenbares Einkommen. Zuflussprinzip, unaufgefordert und unverzüglich, automatisierter Datenabgleich. Versicherungspauschale. Anlage Kosten der Unterkunft. Für mehr als eine Unterkunft reichen die Mietobergrenzen ohnehin nicht aus, da vermeidet man lieber gleich das Wort Wohnung.



Aus der ARGE wurde das Jobcenter. Aus dem Regelsatz wurde der Regelbedarf. Existenzminimum? Leistungsabteilung: lange Flure, wenige Sitzplätze, Security, Wartemarke, Bedarfsgemeinschaft, eheähnlich. Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, Hausbesuch, Mitwirkungspflichten. Unter 25, Kontoauszüge der vergangenen drei Monate. Weiterbewilligungsantrag und alles nochmal von vorn...!
Auf der anderen Gebäudeseite: Die Arbeitsvermittlung, sie winkt mit der Eingliederungsvereinbarung. Eine Initiative formulierte es einst so: „Achtung, Sie verlassen den demokratischen Sektor der Bundesrepublik Deutschland“ und „Wir vermitteln Angst, Ihre Jobcenter“. Mehr als 15 Jahre nach Einführung sind immer noch viele Bescheide falsch oder unverständlich. Es geht ja auch nur um das Existenzminimum, das immer noch 30 Prozent weniger als das Minimum betragen darf. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht zum zweiten Mal der Hartz IV-Gesetzgebung einen Verfassungsbruch bescheinigt. Konsequenzen daraus? Keine wirklichen! Warum auch, das System der Niedriglöhne und Ausbeutung funktioniert nur mit Druck und Zwang.

fauchende Katze in einer Aktenablage

Bild von Mitch Barrie, veröffentlicht unter CC BY-SA 2.0

Die Mitarbeiter*innen in den Behörden wechseln schnell. Alle sagen immer so gern, sie wenden ja nur das geltende Recht an. Ach, wenn es denn so wäre – angesichts vieler falscher Bescheide. Das lässt uns ratlos zurück, gerade wenn man an Cum-Ex-Steuertricks denkt.
Was man wirklich auf den Fluren des Jobcenters hört, ist Verzweiflung, Resignation und ein „Ich mache alles, nur um von hier wegzukommen!“
Hartz IV überwinden heißt, einen sehr beschwerlichen Weg zu gehen. Aber der Weg in Richtung einer solidarischen Gesellschaft ist es wert.

Was bedeutet die Forderung, Hartz IV zu überwinden? eine Ideensammlung in ungeordneter Reihenfolge

Von hier ist es noch ein kleiner Schritt zu gesellschaftlichen Utopien:


Verfasst von einem Aktivisten aus der Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg ALSO

Was ist eigentlich... Klassismus?

Es gibt viele Vorurteile gegenüber erwerbslosen Menschen. Bildungschancen werden in Deutschland quasi vererbt. Menschen, die beispielsweise den Vornamen Kevin tragen, werden belächelt. Solche Formen der Ausgrenzung und Abwertung können unter dem Begriff Klassismus zusammengefasst werden. Nicht nur strukturelle Faktoren sind dabei relevant - also die Art, wie die Gesellschaft aufgebaut ist -, sondern auch die persönliche Eingebundenheit in klassistische Denkmuster in Bezug auf sich selbst oder andere Menschen spielt hier eine Rolle.


In Deutschland hat diese Form der Diskriminierung auch eine nationalsozialistische Geschichte: Menschen, die als "asozial" bezeichnet wurden, aber auch Bettler*innen und Sexarbeiter*innen wurden in Konzentrationslager deportiert.[1] Die Anerkennung dieser Verfolgten ist erst im Februar 2020 durch den Bundestag geschehen.[2] Klassismus bezeichnet also Vorurteile oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder der sozialen Position. Dabei sind nicht nur die alltäglichen und persönlichen Rollenvorstellungen und Statuszuweisungen gemeint, sondern auch institutionalisierte Benachteiligungen.
In den letzten Jahren werden sich nicht nur mehr Betroffene über diese Zusammenhänge bewusst. Auch mehr und mehr Wissenschaftler*innen veröffentlichen und forschen im Feld des Klassismus.

Klassistische Bilder in den Medien

Dass die mit dem Begriff Klassismus beschriebene Abwertung keine Randerscheinung ist, wissen Betroffene. Trotzdem bleibt sie häufig unbenannt. In vielen Medien wird mit Abwertungen gegenüber erwerbslosen Menschen gearbeitet. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2019, wodurch die Sanktionsmöglichkeiten beim Hartz IV eingeschränkt wurden, rekonstruierten Zeitungen das klassistische Stereotyp des faulen Arbeitslosen, der über das Urteil jubeln würde. Dies beschreibt Francis Seeck als "Hetze gegenüber erwerblosen Menschen"[2]. "Klassismus richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, z. B. einkommensarme, erwerblose und wohnungslose Menschen, aber auch Arbeiter*innenkinder"[2].

Das Aufstiegsmärchen: "Alle können es schaffen. Sie müssen es nur wollen"

Die sogenannte Leistungsgesellschaft will vermitteln, dass alle es schaffen können. Ob das gelingt, hängt scheinbar von der eigenen Leistungsbereitschaft ab. Die tatsächlichen Voraussetzungen, die arme, erwerblose oder wohnungslose Menschen vorfinden, haben in dieser Vorstellung offensichtlich keine Bedeutung. Auch andere Ausgrenzungsmechanismen wie Rassismus, Transfeindlichkeit oder Behindertenfeindlichkeit werden komplett ausgeblendet.
Tatsächlich ist die Gesellschaft aber fast komplett auf eine Mittelschicht ausgerichtet[3], in der ausreichend finanzielle Mittel, Weißsein, Cisgeschlechtlichtkeit[4], Heteronormativität[5] und Nichtbehinderung - um ein paar Beispiele zu nennen - die Norm bilden.

Ein Schild von der Bergwacht, auf dem darauf hingewiesen wird ,die eigenen Knoten zu überprüfen

Bild von Fiona Shields, veröffentlicht unter CC BY-NC-ND 2.0

Dass der gesellschaftliche Aufstieg (oder auch Nicht-Abstieg) allerdings in vielen Fällen und auch strukturell davon abhängt, wie vermögend die Familie ist oder ob überhaupt eine Familie vorhanden ist, wie gut die persönlichen Netzwerke sind (das sogenannte "Vitamin B"), welche Bildungsabschlüsse erreicht werden, wird in diesem Aufstiegsmärchen ausgeblendet.

Klassismus und Mehrfachdiskriminerung

Die Verstrickungen und Verwobenheiten unterschiedlicher Diskriminierungsformen wirken auch beim Klassismus. Alleinerziehende Mütter, trans Menschen und Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, haben ein höheres Armutsrisiko. Mehrfachdiskriminierungen sind hier an der Tagesordnung. Auch wenn der Begriff der "Armutsmigration" verwendet wird, kann häufig von einer Koppelung ausgegangen werden, schreibt Francis Seeck[2].
Im Jahr 2000 veröffentlichte die schwarze feministische Wissenschaftlerin bell hooks das Buch "Where We Stand: Class Matters" und rückte diesen Aspekt der Verwobenheit stärker in den Fokus. Im deutschsprachigen Raum haben sich Prolo-Lesben und Arbeiter*innentöchter zusammengefunden, um gemeinsam politische Arbeit gegen Sexismus, Homophobie und Klassismus zu machen und sich gegenseitig zu unterstützen.[6]
Im Jahr 2009 veröffentlichen Heike Weinbach und Andreas Kemper "Klassismus. Eine Einführung"[7] und stießen damit wieder eine Diskussion in Deutschland an.

Alltägliche Abwertungen durch klassistische Denkmuster

Neben den strukturellen Bedingungen, die erwerblose, einkommensarme und wohnungslose Menschen benachteiligen und diskriminieren, kommen die Stigmatisierungen und Abwertungen im Alltag hinzu. Denn auch Faktoren wie Wohnort, Sprache und Geschmack können klassistisch gelesen werden und zu sozialer Ausgrenzung führen.
Dies hat den Effekt, dass sich die persönliche gesellschaftliche Position für einkommensarme Menschen in das eigene Sein einschreibt. Der Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu hat dieses mit seiner Habitus-Theorie beschrieben. Hierbei wird ein Zusammenhang zwischen der Art des Auftretens, des Benehmens und der Schichtzugehörigkeit angenommen.[8]
Die Schriftstellerin Rita Mae Brown liefert eine Beschreibung, die noch weitere Facetten sichtbar macht: „Klasse schließt dein Verhalten und deine fundamentalen Überzeugungen mit ein; wie du gelernt hast, dich zu verhalten; was du von dir und anderen erwarten darfst; deine Idee von der Zukunft, wie du Probleme verstehst und löst; wie du denkst, fühlst, handelst.“[9] Diese Beschreibung von Brown macht die persönliche Eingebundenheit und unterbewusste Allgegenwärtigkeit deutlich. Für "Personen aus privilegierten Klassen" bedeutet dies, sie "bewegen sich mit einer Leichtigkeit innerhalb der Gesellschaft, denn sie sprechen die Sprache, die ihnen Türen öffnet, und haben keine Angst im Umgang mit Autoritäten."[8]

Eine Katze sitzt am Fernseher und schaut nach draußen.
        Auf der anderen Seite des Fenster sitzt auch eine Katze und schaut herein

Bild von Over Doz, veröffentlicht unter CC BY-NC 2.0

Sammelband mit Beiträgen aus der antiklassistischen Arbeit

Diese Frage beschäftigt auch Aktivist*innen, die sich gegen Klassismus engagieren. Aus diesem Grund haben Francis Seeck und Brigitte Theißl sich entschieden, einen Sammelband herauszugeben, der im Herbst 2020 im Verlag Edition Assemblage erscheinen soll. "Der Sammelband wird 20 Beiträge von Initativen und Aktivist*innen beinhalten, die in verschiedenen Bereichen gegen Klassismus vorgehen, z. B. im Bereich Erwerbslosen-Feindlichkeit oder im Bildungs-, Kultur- oder Medienbereich."[10] Die Beiträge können also auch für die quer, die ALSO und ihr Umfeld interessant sein und vielleicht sogar neue Impulse für die politische Arbeit einer Erwerbsloseninitiative liefern.

Spendenaufruf, um das Buch zu finanzieren

Um das Projekt zu realisieren, werden Spenden benötigt. Nicht nur der Druck und das Lektorat verursachen Kosten, auch die Autor*innen und Herausgeber*innen sollen für ihre Arbeit entlohnt werden.
Unter den Leser*innen der quer gibt es vielleicht ja auch solidarische Menschen, die diese Sache unterstützen können und mögen.

Unter dem Stichwort Antiklassismus kann per PayPal gespendet werden oder direkt auf das Konto des Verlags:
Kontoinhaber*in: assemblage e.V., IBAN: DE25401600500389016800, Verwendungszweck: Antiklassismus.

[1] vgl. Seeck, Francis: Hä, was heißt denn Klassismus?, online erschienen im Missy Magazine am 28.01.2020. Hier verfügbar.

[2] Culina, Kevin:Aufarbeitung im Bundestag - Späte Anerkennung für Nazi-Opfer, online erschienen auf taz.de am 14.02.2020.

[3] An dieser Stelle möchten wir verweisen auf:
Intersektionale Pädagogik: Handreichung für Sozialarbeiter_innen, Erzieher_innen, Lehrkräfte und die, die es noch werden wollen. Ein Beitrag zu inklusiver pädagogischer Praxis, voruteilsbewusster Bildung und Erziehung, März 2013. Hier verfügbar.

[4] Cisgeschlechtlichtkeit bezeichnet den Umstand, dass sich Menschen mit dem entweder männlichen oder weiblichen Geschlecht identifizieren, welches ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Bei trans Menschen wurde dagegen bei der Geburt ein falsches Geschlecht zugeordnet. Quelle

[5] Heteronormativität bezeichnet die Vorstellung, dass eine heterosexuelle Lebensweise die Norm darstellt. Die Lebens- und Liebesweisen von Menschen, die nicht männlich oder weiblich sind und/oder bspw. homosexuell oder bisexuell begehren, werden durch eine heteronormative Sicht ausgeblendet.

[6] vgl. Tanja Abou: Prololesben und Arbeiter*innentöchter. Zuerst erschienen in Kurswechsel. Am 04.12.2015 auf dem Blog der maedchenmannschaft.net erschienen.

[7] Heike Weinbach und Andreas Kemper (2009): Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast­ Verlag.

[8] vgl. Sven Woytek in Klassismus - Eine Einführung. Hier verfügbar.

[9] Rita Mae Brown: The Last Straw, zitiert in Wir sind Klasse, Blog-Artikel auf Class Matters von Clara Rosa am 16.04.2013.

[10] Der Aufruf, eigene Beiträge einzureichen findet sich hier.
Der Spendenaufruf findet sich hier.


Verfasst von der quer Redaktion

Rezension:
Christoph Butterwegge: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland
Erschienen bei Beltz Juventa, Weinheim Basel, 2020.

„Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah‘n sich an / Und der Arme sagte bleich: / Wär‘ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Mit diesem Zitat von Bertolt Brecht fasst Christoph Butterwegge, bis 2007 Professor für Politikwissenschaft in Köln, die zentrale These seiner Analyse der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ungleichheit in Deutschland zusammen: Die zunehmende Verarmung eines wachsenden Teils der Bevölkerung und der unvorstellbare Reichtum einer kleinen Minderheit sind zwei Seiten derselben Medaille und weisen hin auf eine Gesellschaft, die geprägt ist vom grundlegenden Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit.
Der gut 400 Seiten dicke Band Die zerrissene Republik gibt einen Überblick über die Veränderungen der sozialen Verhältnisse in Deutschland seit 1945, über die Sozialpolitik von Ludwig Erhard bis Hartz IV. In diesem Zusammenhang analysiert B. auch die Geschichte der Soziologie: Ihre Versuche, ebendiese Veränderungen mit immer neuen Begriffen zu beschreiben, verschleierten diese Entwicklung eher als dass sie sie erklärten.


Der Marxsche Klassenbegriff ist noch immer gültig

An den Anfang und ins Zentrum seiner Untersuchung auch der gegenwärtigen Formen von Ungleichheit stellt B. den Marxschen Klassenbegriff. Er sieht „sozioökonomische Ungleichheit als Hauptursache von Benachteiligungen in anderen Lebensbereichen…“ wie „[…] der Diskriminierung wegen des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder der ethnischen Herkunft einer bestimmten Personengruppe…“ (14).
„Nur bei Marx und Engels findet man eine konsistente, in sich stringente Theorie, die soziale Ungleichheit aus den Entwicklungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise ableitet und darzulegen vermag, warum eine kleine Bevölkerungsgruppe die große Mehrheit in der bürgerlichen Gesellschaft ökonomisch ausbeutet und politisch-ideologisch beherrscht“ (38).

Stencil von Karl Marx, der das Peace-Zeichen mit seiner Hand formt

Bild von universaldilletant, veröffentlicht unter CC BY-NC-SA 2.0

Der von „Marx und Engels begründete Erklärungsansatz“ (255) sei noch immer gültig: „Eine kapitalistische, ‚marktwirtschaftlich‘ organisierte Gesellschaft tendiert zur sozioökonomischen Polarisierung, weil den Mitgliedern einer privilegierten Klasse […] die Produktionsmittel […] ebenso gehören wie die Rücklagen, mit denen sie Profit auf den Finanzmärkten machen“, während die Mitglieder einer anderen Klasse, traditionell Proletariat genannt, ihre Arbeitskraft gegen ein „vergleichsweise geringes Entgelt (Lohn) verkaufen müssen“ (255f).
Um die Marx‘sche Klassenanalyse nutzen zu können, bedürfe es aber „einer Modifikation und Ergänzung der Marx‘schen Schlüsselkategorien, einer Untersuchung der aktuellen Spaltungslinien und einer Fokussierung auf die Konsequenzen für das politische System wie für das soziale Klima der Bundesrepublik“ (255).
Von diesem Standpunkt aus arbeitet sich B. mit bewundernswerter Ausdauer durch die soziologische Forschung zur (westdeutschen) Sozialstruktur und führt dabei sehr schön vor, wohin man kommen kann, wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht: Nachdem Schelsky in den 1950ern die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ und Beck in den 1980er Jahren die „Risikogesellschaft“ entdeckt hatten, geisterte die „Erlebnis-“ oder „Multioptionsgesellschaft“ auf dem Soziologie-Jahrmarkt ebenso herum, wie „Rolltreppen-“und „Fahrstuhleffekte“ und ähnlich phantasievolle Metaphern bemüht wurden, bis dann am Ende kein Begriff mehr irgendetwas bedeutete und von „Aufmerksamkeits-“, „Reputations-“, „Singularitätskapital“ und sonstigem Unsinn geschwafelt wurde.
Demgegenüber hält B. daran fest, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit für das Verständnis von Ökonomie und Politik wesentlich bleibe, auch wenn die soziale Wirklichkeit heute natürlich anders aussieht als zu Marx‘ Zeiten: „Selbst für den Fall, dass die sozialstatistische Gruppe der Arbeiter endgültig verschwände, würden jedoch noch Millionen Lohnabhängige zur arbeitenden Klasse im weiteren Sinne gehören“ (153), womit Butterwegge bewusst den Begriff benutzt, den Engels in seiner Untersuchung „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ 1845 verwendete, weil der „Begriff ‚Arbeiterklasse‘ weder gendergerecht ist noch Menschen erfasst, die abhängig beschäftigt sind, ohne Arbeiter oder Arbeiterin zu sein“ (154).

Der Weg in die „zerrissene Republik“

Die von B. ausführlich belegten und erläuterten allgemein bekannten Etappen und Stationen auf dem Weg in die „zerrissene Republik seien hier nur genannt:
- Währungsreform 1948 und Gründungsmythos der BRD: Alle starteten angeblich mit 40 DM
- „Wohlstand für alle“: Sozialpolitik vor dem Hintergrund des Kalten Krieges
- Weltwirtschaftskrise 1974/75 und „neue Armut“
- Massenarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren und die Spaltung zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen in der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“
- Die gigantische Umverteilung von unten nach oben durch die Steuerpolitik der verschiedenen Bundesregierungen
- Der Rückzug des Staates aus gemeinschaftlichen Aufgaben, z. B. durch Privatisierung der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften und der Altersvorsorge
- Deregulierung des Arbeitsmarktes und Wandel vom „welfare state“ zum „workfare state“, u.a. durch die sog. „Agenda 2010“ der rot-grünen Bundesregierung.
Bei seinem Gang durch die Geschichte der sozialen Entwicklung und der sozial- bzw. steuerpolitischen Maßnahmen setzt sich B. aber nicht nur mit seinen Kolleg*innen aus dem Wissenschaftsbetrieb auseinander, sondern ebenso mit Politiker*innen, Interessenvertreter*innen und Medien. Dabei wird deutlich, wie die wachsende Ungleichheit verharmlost, relativiert oder ideologisch gerechtfertigt wird. Begriffe wie „abgehängtes Prekariat“ oder „Unterschichten“ unterstellen, dass Erwerbslosigkeit - und als deren Folge Armut - „Resultat individuell-unangepasster Verhaltensweisen“ (179f.) seien. Wer arm ist, so will es das neoliberale Dogma der Eigenverantwortung, ist selber Schuld.

Klassenkampf von oben

Wie richtig es ist, die sozialökonomische Entwicklung als Ausdruck des Klassengegensatzes von Kapital und Arbeit zu sehen, wird deutlich, wenn man sich die in den vergangenen Jahrzehnten vollzogene Privatisierung des staatlichen Eigentums und den Abbau des Sozialstaates ansieht – das ist: Klassenkampf von oben. Hier nur eine kleine Auswahl der von B. zusammengetragenen Fakten:
Zu Beginn der 1950er Jahre lag in Westdeutschland der Steuersatz bei bis zu 95%, ein Einkommensmillionär musste mindestens 898.715 DM Steuern zahlen (291).
Gäbe es aktuell die gleichen Steuern und einen Steuersatz wie in der Ära Kohl, könnte die öffentliche Hand über 100 Mrd. mehr an Einnahmen verfügen (302f).
Mit der von der rot-grünen Bundesregierung begonnenen „Agenda 2010“ wurden „Arme zum Objekt von Erniedrigung, Demütigung und Ausgrenzung“ (365) gemacht. Mit Hartz IV wurde ein System etabliert, das „die Betroffenen nicht mehr loslässt, ihren Alltag völlig beherrscht und sie zwingt, ihr gesamtes Verhalten danach auszurichten“ (367).
Lebte Mitte der 1960er Jahre noch jedes 75. Kind in einer „Hilfe zum Lebensunterhalt“ (sog. Sozialhilfe) beziehenden Familie, bezieht aktuell jedes 7. Kind Leistungen nach dem SGB II. In Städten wie Berlin oder Bremen ist es bereits jedes 3. Kind.
Das kürzlich eingeführte Baukindergeld „führt zu der absurden Situation, dass die 600.000 alleinerziehenden Mütter im Hartz-IV-Bezug, wenn sie Windeln oder andere Waren kaufen, auf die 19% Mehrwertsteuer erhoben werden, zur Finanzierung der Kosten des Baukindergeldes in Höhe von etwa zehn Milliarden Euro […] beitragen“ (304).
Dazu passen Zahlen, die kürzlich vom Bundesarbeitsministerium veröffentlicht wurden: Arbeitnehmer*innen mit einem Jahreseinkommen bis 70.000 € zahlen „81 Prozent der Sozialabgaben, obwohl ihr Gesamteinkommen bei knapp zwei Dritteln liegt“. Arbeitnehmer*innen mit mehr als 110.000 € Jahreseinkommen dagegen verfügen über 22 Prozent des Gesamteinkommens, tragen aber nur 5 Prozent der Sozialabgaben (Süddeutsche Zeitung vom 03.02.20).
Ausführlich widmet sich B. außerdem der Steuerbeschenkungspolitik zu Gunsten der Superreichen sowie der Senkung der Erbschafts- und Schenkungssteuer – die Zahlen und Auswirkungen sind teilweise so ungeheuerlich, dass man sich über den sogenannten sozialen Frieden in diesem Land schon wundern kann.
Als entscheidenden Einschnitt in der westdeutschen Sozialpolitik sieht B. den zu Anfang der 1980er Jahre beginnenden und „bis heute dauernden Siegeszug“ des Neoliberalismus (168). So seien die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die „Agenda“-Reformen „kein zwangsläufiges Resultat der Technikentwicklung […] oder der wirtschaftlichen Globalisierung“ gewesen, „sondern bewussten Entscheidungen im politischen Raum geschuldet, die einflussreiche Konzernstiftungen, Lobbyeinrichtungen der Wirtschaft und neoliberale Thinktanks vorbereitet hatten“ (272f.).

Ein bettelnder Mensch, mit einer Decke um die Beine geschlagen, sitzt vor
      einem Geschäft und liest

Foto von Klaus Fritsche, veröffentlicht unter CC BY-NC-SA 2.0

Umverteilung statt Revolution?

Das klingt nun eher nach Verschwörungstheorie als nach Kritik der politischen Ökonomie. Und in der Tat verwendet B. die Marxsche Theorie nur zur Analyse des Klassengegensatzes von Arbeit und Kapital, nicht aber zur Überwindung dieses Gegensatzes. Konnten Marx und Engels noch auf die Aneignung der Produktionsmittel durch die Arbeiter*innen und die Revolutionierung der Produktionsverhältnisse hoffen, muss B. auf den „Sozial- und Steuerstaat“ setzen, der im Rahmen der Sekundärverteilung „Einkommensüberschüsse durch Erhebung von Abgaben und Steuern abschöpfen, geringe Einkommen hingegen mittels staatlicher Transferleistungen aufstocken“ (255) kann. Also: Umverteilung statt Revolution!
B. ist offensichtlich der Ansicht, dass es angesichts der politischen Kräfteverhältnisse zur Zeit um mehr nicht gehen könne. Das ist nachvollziehbar. Aber man kann sich schon fragen, ob der Rekurs auf die marxistische Klassenanalyse wirklich notwendig ist, wenn es allein um ein paar steuer- und sozialpolitische Reformen geht.
Tatsächlich sorgt sich B. in bester sozialdemokratischer Art, dass „übermäßiger (Kapital-)Reichtum nicht bloß ein gravierendes moralisches …, sondern auch ein massives ökonomisches Problem“ (321) sei, weil den ärmeren Bevölkerungsschichten die Massenkaufkraft fehle. „Anders formuliert: Ungleichheit rechnet sich nicht, sondern belastet die Wirtschaft, den Staat und die Gesellschaft“ (322). Ungleichheit rechnet sich für Milliardäre durchaus. Und solch ein ums große Ganze besorgter Ton passt nicht recht zur am Schluss formulierten Feststellung: Wenn man sich auf Umverteilung beschränkt, „ohne das kapitalistische System selbst in Frage zu stellen, zementiert man es allerdings.“ (404)
Letztlich zieht sich dieser Widerspruch durch das ganze Buch: Auf der einen Seite der Versuch, marxistische Theorie für die Untersuchung gegenwärtiger Verhältnisse nutzbar zu machen, auf der anderen Seite Äußerungen, die erschreckend naiv sind. So sieht B. in der Antwort der CDU auf den youtuber Rezo ein Beispiel dafür, „wie wenig Sachkenntnis, Problembewusstsein und Sensibilität etablierte Parteien hinsichtlich der sozioökonomischen Ungleichheit“ (210) haben - als ob die Politiker nur zu blöd oder zu unsensibel wären! Entspringt nicht „die soziale Ungleichheit aus den Entwicklungsgesetzen der kapitalistischen Produktionsweise“ (s. o.)?
Immerhin bewahrt B. den Leser vor dem heute so verbreiteten Irrtum, zunächst müsse das Klima gerettet werden, bevor man an irgendetwas Anderes denken könne. Die Gattungsfrage gehe der Klassenfrage keineswegs voran, sondern die kapitalistische Produktionsweise beschwöre „die ökologische Katastrophe geradezu herauf, weshalb dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem baldmöglichst überwunden werden muss, damit die Menschheit überleben kann“ (392f.).
Als „Alternativen zur sozioökonomischen Polarisierung im digitalen Finanzkapitalismus“ (391) nennt B. abschließend die:
- „Entwicklung eines Mindestlohns zu einem Lebenslohn“ (394ff.)
- „Solidarische Bürgerversicherung und soziale Mindestsicherung für einen inklusiven Sozialstaat“ (397ff.)
- „Abschöpfung des Reichtums: Vergesellschaftung und/oder Umverteilung von oben nach unten“ (401ff.)
All das ist natürlich ebenfalls weit davon entfernt, das „kapitalistische System selbst in Frage zu stellen“, aber, auch das wusste schon Brecht: „… die Verhältnisse, sie sind nicht so!“

Verfasst von toe aus der quer Redaktion

Ist das noch öko?

Widerstand gegen 18000-Legehennen-Stall

Am Ortseingang von Sandkrug – einer Gemeinde von ca. 4.000 Menschen bei Oldenburg – soll ein Bio-Stall mit 18.000 Legehennen gebaut werden. Dafür sollen im Landschaftsschutzgebiet 8.000 m² „verfestigt“ und 11 ha als Freilauffläche hergerichtet werden. Das erfuhren Anwohner*innen in den Sommerferien mehr zufällig aus einer „Amtlichen-Bekanntmachungs“-Anzeige in der örtlichen Zeitung. Daraufhin gab´s heftigen Widerstand und zahlreiche Einwendungen, obwohl nur noch ca. zwei Wochen Zeit war, fristgerecht bei der Gemeinde Stellungnahmen zum Projekt abzugeben.


Gefahren durch Massentierhaltung

Nicht mit uns - „keine Massentierhaltung in Sandkrug und anderswo!“, meinten erst 30 Mitglieder einer Anwohnerinitiative, dann 700 Einwohner*innen des kleinen Ortes, die innerhalb von 14 Tagen ihren Namen unter eine entsprechende Erklärung setzten. Am Ende unterschrieben 4.600 Bürger*innen aus Sandkrug und Umgebung. Warum?
Neben der Kritik an der Versiegelung des Landschaftsschutzgebietes prangert der Flyer der Initiative an, dass
- aus den hohen Entlüftungsschloten des Stalls Feinstaub, Ammoniak, Stickstoff, Gerüche und evtl. auch multiresistente Krankheitskeime über den ganzen Ort verteilt werden würden, trotz der Filteranlagen.
- sich in der Nähe zwei Kitas, die „Waldschule“, eine Behindertenwerkstatt, Gebäude von Gewerbetreibenden und zahlreiche Wohnhäuser befinden. „Es sind Gesundheitsschäden zu erwarten!“
- jährlich mit 140 Tonnen Hühnerkot zu rechnen sei. Der Kot auf der Freilauffläche würde „durch den Regen ins Erdreich eindringen und das Grundwasser gefährden. In unmittelbarer Nähe befinde sich ein Fleth“, die Hunte sei 350 m entfernt. Der Landkeis Oldenburg gehöre bereits jetzt zu den sieben am meisten durch Nitrat geschädigten Landkreisen Niedersachsens.
Der Grenzwert von 50 mg Nitrat pro Liter wird in Sandkrug bereits überschritten. Nitrat kann sich in das giftige und krebserregende Nitrit umwandeln.

Flyerkopf der Initiative mit der Aufschrift:

Der Kopf des Flyers, eingescannt von der quer Redaktion

Tierwohl bei EU-Öko berücksichtigt?

Die Initiative weist darauf hin, dass der geplante Stall „nach dem jetzigen Stand nicht die Anforderungen von Bioland, Naturland oder Demeter“ erfülle, sondern nur die Anforderungen „der eher ‚laschen‘ EU-Öko-Verordnung“. Der Gedanke des Tierschutzes werde nicht berücksicht: Wenn sich sechs Hennen oder mehr auf einem Quadratmeter Stallfläche zusammendrängen müssen, könne von einer tiergerechten Haltung nicht mehr gesprochen werden. Auch nach der EU-Öko-Verordnung dürften nur bis zu 3 000 Hühner in einem Stall gehalten werden. Es gebe aber „‘legale‘ Möglichkeiten“, diese Vorgabe zu umgehen.
Zudem sei es ethisch nicht vertretbar, wenn Legehennen nach zwölf bis vierzehn Monaten geschlachtet werden und als Suppenhuhn oder Geflügelwurst enden, nur weil ihre Legeleistung nachlasse.

Eierbedarf in Deutschland bereits gedeckt?

Ihre Ablehnung jeglicher Massentierhaltung begründet die Initiative auch mit dem Argument der Überproduktion. 2018 seien in Deutschland bereits 12,3 Milliarden Eier von 41 Millionen Hennen gelegt worden – darunter 1,35 Mrd. Bio-Eier. Mehr als genug für den Bedarf der Bevölkerung! Sinnvoller als der Bau neuer Massentierhaltungsställe sei es vielmehr, „wenn möglichst viele landwirtschaftliche Betriebe – mit der erforderlichen staatlichen Unterstützung – von der konventionellen auf die ökologische Eierproduktion umsteigen würden“.

Widerstandsaktionen und Reaktionen

Aus einer privaten Initiative Einzelner war im Juli 2019 eine Bürgerinitiative geworden, die sich öffentlich traf. Eine Presseerklärung wurde verfasst, Flyer wurden verteilt. Öffentlichkeitsarbeit und Unterschriftensammlungen mündeten in ca. 70 Einwendungen bei der Gemeinde. Die Mitglieder der Initiative holten sich Rat bei Umweltverbänden, sprachen mit den Ratsfraktionen, der Gemeindeverwaltung und dem Bürgermeister. Alles mit einem Ziel: Der Gemeinderat soll dem Megastall die Genehmigung verweigern!
Die Fraktionen reagierten erst einmal abwehrend, betonten das Prinzip der Nähe zwischen Stallanlagen und Hof, das notwendig sei, wenn man eine Zersiedelung der Außenbereiche verhindern wolle. Sie bestritten zum Teil, dass ein Betrieb mit 18.000 Hennen als Massentierhaltung anzusehen sei. Im Zuge des Stallneubaus seien die Landwirt*nnen verpflichtet, die Gesamtemissionen aus dem Bauernhof durch neue Filter für die bereits bestehenden Schweineställe zu senken. Dadurch verbessere sich insgesamt die Luftqualität sogar. Die Fraktionen versprachen aber, nach den Einwänden erneut zu beraten.
Die Initiative fragte daraufhin konsterniert, warum erst jetzt die vorhandenen Mastschweineanlagen mit besseren Filtern versehen werden sollen. Der Behauptung der Verringerung der Gesamtemissionen nach Bau des Megastalls könne sie jedoch „keinen Glauben schenken“. Die Behauptung könne auch „mangels der Möglichkeit einer Einsichtnahme in die Planungsunterlagen und gutachtlichen Stellungnahmen nicht überprüft werden“. Die Bürger*innen fassten ihre Argumente gegen die Errichtung eines Bio-Legehennenstalls noch einmal in einem Offenen Brief an die Gemeinderatsmitglieder und Parteien zusammen.
Nun heißt es erst einmal warten: Ein Planungsbüro bewertet die Einwendungen. Und dann wird der Gemeindeausschuss das Bauvorhaben behandeln…

Verfasst von der quer Redaktion nach Infomaterialien der „Initiative gegen eine Massentierhaltung“.
Wir danken Angela und Rainer Burchardt für die Zusendung!

Und sonst so?

Der unvollständige Blick über den Tellerrand

Eine bunte Sammlung von Artikeln, Videos, und Bildern, die wir gerne mit euch teilen wollen.


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